"Gang durch mein Stuttgart" von Arno Lederer

Ausgangspunkt dieses längeren Spaziergangs ist der Bruckmannweg 10 in der Weißenhofsiedlung. Dort sind es vor allem die Gebäude, die man bestaunt, vornehmlich die Originale. Selten – oder fast nie – ist es hier der Stadtraum, über den man sich austauscht. Das ist eine Stuttgarter Spezialität, nämlich die Abwesenheit eines Gefühls für das Gemeinsame, die Flure und Stuben der Stadt. Hier im Bruckmannweg beflnden wir uns in einem kleinen, aber sehr schön komponierten Straßenraum. Nach Süden sind es die Reihenhäuser von J.J.P. Oud, die diesen Raum abschließen, dort mit einem kleinen, wohlproportionierten Platz. Auf der anderen Seite biegt der Weg nach links, vorbei am ehemaligen Haus von Adolf Rading, das nach dem Krieg durch einen farblosen Baukörper ersetzt wurde. Immerhin ist die Raumkante geblieben. Dort, wie auf der Oud’schen Seite, kann man sowohl nach links als auch nach rechts über eine Treppe in die anderen Straßen gelangen. Der prägnante Bau von Mies van der Rohe, der den Rücken der gesamten Siedlung bildet, begleitet wie ein langgestreckter Riegel diesen Weg. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte Mies kleine Parzellen gezeichnet, die zur Talseite hin eine Auflockerung der Bebauung bewirken. Die Platzierung der Häuser auf dem Weißenhof widerspricht der populären Auffassung der Moderne, etwa den Theorien von Le Corbusier oder auch den offenen Zeilenstrukturen der nur wenig später von Gropius geplanten Dammerstocksiedlung in Karlsruhe. AIIein, wie die Gebäude von Corbusier, von Scharoun oder Behrens die Ecken der Siedlung markieren, erinnert, trotz ihres kleinen Maßstabs, an historische Vorbilder, wie sie von der Gruppe der Architekten um Bonatz und Schmitthenner geschätzt wurden. Man hätte beim Wiederaufbau der gesamten Stadt davon lernen können. 

So schön der Bruckmannweg auch sein mag, es stört seine Zahnlücke am Ausgangspunkt unserer Führung. Hier und im Grundstück darunter hatte Richard Döcker, vehementer Vertreter der Moderne, zwei Häuser gebaut. Im Krieg zerstört, war dieses Grundstück bis vor wenigen Jahren unbebaut. Bis vor kurzem konnte man dort noch ein kleines Versuchshaus von Werner Sobek bewundern, das 2012 dort aufgestellt wurde. Der damalige Oberbürgermeister Schuster hatte dafür die Anregung gegeben, nachdem
er in der Fasanenstraße in Berlin das Energie- Plus-Haus, ebenfalls von Werner Sobek, gesehen hatte. Sobeks Bungalow im Bruckmannweg erinnerte auf den ersten Blick an die Typologie der Fünfziger und Sechziger Jahre, zu deren schönstem Beispiel immer noch das Haus für Edith Farnsworth zählt. So gesehen war die Wahl des Ortes, just gegenüber des originalen Mies, mehr als eine kluge EIngebung. Es war das erste Aktivhaus, wie man auf dem einzigen Überbleibsel, einem grauen Schild auf der Gartenmauerkrone noch lesen kann. Mit dem Überschuss an Energie, die der Bungalow erzeugte, konnte der kleine Elektro-Smart, der zu der gut gestylten Einrichtung zählte, wieder aufgeladen werden. vertraglich sollte das Gebäude bis 2019 stehen bleiben und dann abgebaut werden. Darauf pochten Politik und Verwaltung und so ist uns, diesmal ohne Bombeneinschläge, das Lehrstück nach gerade mal sieben Jahren abhandengekommen. Seitdem schmort das Grundstück ungepflegt vor sich hin – ein Lehrstück anderer Art, welchen Stellenwert das Architekturexperiment für die Politik der Stadt besitzt. Ein Schildbürgerstreich, angesichts der Tatsache, dass in die weltberühmte Siedlung eine solche, die Moderne fortschreibende Ergänzung, langfristig gut gepasst hätte.

Der Umstand schmerzt um so mehr, als beim Verlassen der Siedlung, zwischen dem Miesbau und der Kunstakademie, ein nahezu fertiggestelltes Wohngebäude auffällt. Fassungslos, ob der Unbedarftheit im Umgang der Moderne, denkt man zuerst an eine Verhohnepiepelung. Der Investor hat es aber ernst gemeint, die Käufer werden sich schon finden. Immerhin werden sie aus ihren Fenstern gegenüber auf ein Stück Weltkulturerbe schauen. Vorher stand dort ein kleines, unscheinbares und billig erbautes Postamt, eingerahmt zwischen Kunst und Architektur. Jo Coenen hatte vor vielen Jahren einen Pavillon für die Besucher der Werkbundsiedlung an dieser Stelle gezeichnet. Der Entwurf wurde damals im Städtebauausschuss diskutiert, teilweise bemäkelt, wie das halt in solchen Gremien üblich ist. Man weiß es besser. „Das wäre ihr Preis gewesen“ (Rudi Carrell), so der bekannte Spruch von Coenens Landsmann – schade drum.

Ein paar Meter weiter, wir kommen vorbei am ungeordneten Vorfeld der Kunstakademie, verweilen dort kurz beim 1903 errichteten und gut gestalteten Altbau des vielseitig begabten Malers, Designers, Grafikers und Architekten Bernhard Pankok. Er war bis 1937 der Rektor der Werkkunstschule, die ab 1941 zur staatlichen Akademie der Bildenden Künste umbenannt wurde. Dass Pankok nicht wie viele seiner Kollegen in vergleichbaren Stellungen in der Partei war, sei insbesondere wegen der Kirche, die wir nun schräg gegenüber seines Baues sehen, erwähnt.

„ Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte“, heißt es in Lukas 10,27. Der Architekt dieser Kirche, so denkt man sich, hat den Herrn nicht so sehr geliebt. Da passt nichts richtig zusammen – das Satteldach, die Fenster, der Turm. Aber wen, so fragt man sich, hat der Architekt dieses Hauses denn geliebt? Dabei war die Kirche zunächst ganz im Geiste der Weißenhofsiedlung von Adolf Daiber entworfen worden. 1939, nur sechs Jahre nach ihrer Einweihung wollte man dem Führer, der auf dem Weg zur Einweihung der Reichsgartenschau am Grundstück vorbeifahren sollte, den Anblick der „entarteten Moderne“ nicht zumuten. Rudolf Lempp, Bonatzschüler und Vertreter der Stuttgarter Schule, war sich nicht zu schade, diese Kirche in vorauseilendem Gehorsam zu nazifizieren. Ob der ehemalige Architekturpraktikant Adolf Hitler* überhaupt Gefallen am Akt der Kirchenverstümmelung gefunden hat, wissen wir nicht. Nach dem Krieg wurde Lempp Leiter der späteren Fachhochschule für Technik. Bemerkenswert ist, dass ihn die Kirche nach dem Krieg mit mehreren Aufträgen versorgte. 1950 wurde ihm das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Ironie der Geschichte: Heute wird den Bürgern dieser Stadt, Gläubigen und Besuchern des Killesbergparks der Anblick der verstümmelten Kirche zugemutet. Ein Verein, der die Kirche auf ihre ursprüngliche Form zurückführen möchte, ist bislang erfolglos geblieben: Die Denkmalpflege hält ihre schützende Hand über Lempps Werk. Johannes Brenz, der in Stuttgart verstorbene Reformator, dreht sich so lang weiter in seinem Grab. Sein Spruch, „Die Worte des Verleumders sind Schläge und gehen einem durchs Herz“ könnte man anstandshalber in die Fassade meißeln. …

Den gesamten Spaziergang finden Sie im Archiv als Download

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Prof. Arno Lederer, Architekt, Büropartner bei Lederer+Ragnarsdóttir+Oei