Predigt zum 90. Jahrestag der Einweihung der Brenzkirche Stuttgart

Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind. So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ Mt 5,14-16

Landesbischof Theophil Wurm wählte diesen Text aus der Bergpredigt für sein Grußwort anlässlich der Einweihung der Brenzkirche vor genau 90 Jahren am 2. April 1933. Zwei Monate zuvor war die NSDAP an die Macht gewählt worden. Die Gemeinde sah sich bereits mit heftigen Vorwürfen gegen die Architektur der Brenzkirche konfrontiert.

Wurm versuchte den Ball flach zu halten: „Von allen Höhen, die die schwäbische Hauptstadt in weitem Bogen umziehen, erblickt das Auge die um den Weißenhof entstehende Siedlung. Dass solch eine Lage ihre bedenklichen und gefährlichen Seiten hat, dass sie nicht bloß den Blick des Bewunderers, sondern auch des Kritikers auf sich zieht, (…) das hat nun auch das Gotteshaus erfahren müssen.“ Die äußere Form sei nie eine Stärke des Protestantismus gewesen und deshalb solle die Gemeinde sich von der Kritik nicht beirren lassen.

Hat sie aber. Und wenn einem oder einer eine Kirche Leid tun kann, dann ist es die Brenzkirche. Als Kind der vom Friedenspfarrer Otto Umfrid geprägten Erlöser-Gemeinde und eines demokratischen Aufbruchs in der Architektur strahlte die Brenzkirche eine für Kirchen ganz neue Schlichtheit und Sachlichkeit aus.

Wurm hatte ein gutes Gespür für das, was die Brenzkirche ausmachte, als er das Lichtwort Jesu wählte. Denn die Gemeinde hatte sich 1932 gegen die heraufziehenden nationalsozialistischen Schatten für ein Gebäude entschieden, in dem Licht das prägende Stilelement darstellte.

Wer die Kirche besuchte, wurde gewissermaßen Teil einer Lichtinstallation, die schon mit dem Weg nach oben in den Kirchenraum begann. Dem Architekten Alfred Daiber war etwas gelungen, was er vielleicht gar nicht beabsichtigt hatte: Eine Kirche deren Botschaft im Schwellenjahr 1933 lautete: Mehr Licht! Licht der Welt! Ich sehe aus wie eine Werkstatt – da habt ihr Kritiker ganz recht – ich bin eine Werkstatt des heiligen Geistes, ein Ort für alle, die schwer tragen an der Last einer obrigkeitsorientierten, aristokratisch auftretenden Kirche. Ich bin ein Ort, der die Menschen drinnen mit dem Leben draußen und Menschen draußen mit dem Leben drinnen verbindet, eine Kirche in der ein Fensterband den Blick zum Himmel lenkt und dann auf einen Christus konzentriert, der sie mit offenen Armen empfängt.Das muss reichen. Mehr will ich nicht, mehr kann ich nicht, mehr muss ich nicht. Das war vielen zu wenig und den meisten zu viel.
So stand schon die Einweihung der Brenzkirche unter einem ungünstigen Stern, der bereits die Form eines Hakenkreuzes angenommen hatte und Blitz und Donner gegen alles schleuderte, was Demokratie, Weltoffenheit und Modernität ausstrahlte. Die schlichte Schönheit der Brenzkirche fristete von Anfang an ein ungeliebtes Dasein. Nicht nur die Nazis auch die Erzeuger der Kirche, die Gemeinde und der Architekt wandten sich, kaum dass sie geboren war, von ihr ab. Der Architekt schwieg, als die Gemeinde ihrer Kirche eine nationalsozialistische „Entschandelung“ aufzwangen. Der Architekt dafür, Rudolf Lempp, war Gemeindemitglied und ein glühender Gegner des Neuen Bauens. Er wollte an der Brenzkirche ein Exempel für dessen Unterwerfung unter die NS-Ästhetik statuieren. Aus der wohlproportionierten einladenden Schönheit wurde ein plumper und abweisender Baukörper. Ungeliebt, vergewaltigt, missbraucht! So musste die Brenzkirche mit anhören, dass das, was man ihr angetan hatte, eine gleichsam göttliche Fügung gewesen sei.

Die jüdischen Kinder waren schon von Pfarrer Hilzinger des Kindergartens verwiesen worden. Nun verbot Pfarrer Fritz höchst persönlich Gemeindemitgliedern, die aufgrund des Arierparagraphen zu Juden erklärt wurden, die Kirche zu betreten. – Diese Kirche musste mitansehen wie „ihre Kinder“ mit über 2000 anderen jüdischen Mitbürger:innen auf dem Gelände der Reichsgartenschau, im Killesberg-Park gleich nebenan, zusammen getrieben wurden, wie man ihnen ihre Habseligkeiten stahl und sie vor ihr auf den Weg und an zwei anderen Kirchen vorbei zum Nordbahnhof in den Tod schickte. Im Juli, September und Oktober 1944 wurde die Brenzkirche von Bomben getroffen und schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzt. – Die moderne Stahlgerüstkonstruktion erwies sich als außerordentlich stabil.
Nach dem Ende der Krieges und des nationalsozialistischen Terrors hätte eine rehabilitierte Kirche ein starkes Zeichen für einen sichtbaren Neuanfang sein können und einlösen, was sich die Evangelische Kirche ein Jahr zuvor im Stuttgarter Schuldbekenntnis vorgenommen hatte: mutiger zu bekennen, treuer zu beten, fröhlicher zu glauben und brennender zu lieben. Aber so weit war man anno 46 noch nicht. Das Land lag am Boden und (frei nach B.Brecht) der Schoß war leider fruchtbar noch, aus dem der Ungeist kroch.
Architekt Lempp machte sich wieder an der Kirche zu schaffen. Die goßen Fenster wurden zu Schlitzen verengt. Der einladende Christus im Kirchenraum bekam einen Hintergrund. Ein Triumphbogen mit Seligpreisungen in Frakturschrift auf rot-braunem Grund. Das ist fast schon bösartig. Zum 20. Geburtstag wurde das schlichte Kreuz über dem Haupteingang durch die Kreuzigungsgruppe von H.Uhrig ersetzt. Es gab in den sechziger und und siebziger Jahren noch weitere Eingriffe bis der Kirchenraum aussah wie jetzt. Zum fünfzigsten kam dann das Denkmalamt und verordnete Stillstand.
Draußen ging das das Leben weiter: Dazu gibt es eine Geschichte im Neuen Testament.

Und nach einigen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war.
Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?
Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten:
Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.(Mk 2)

Manchmal muss man die gewohnten Wege verlassen, wenn etwas wieder in Bewegung kommen soll. Der Mann auf der Bahre ist gelähmt. Er ist in einer Lebenskrise gefangen. Sein Leben hat keinen Spielraum mehr. Andere bestimmen über ihn. Er ist nicht in der Lage, etwas an seiner Situation zu verändern. Er wäre verloren, aber er hat Freunde, die nichts unversucht lassen, ihn wieder auf die Beine zu bringen. Sie lassen sich nicht abwimmeln nach dem Motto: „Halt! Denkmalschutz! Da kann man doch nichts machen. So isses halt.“ Sie lassen sich nicht aufhalten von der Menge und den Schriftgelehrten, die den Weg zur Veränderung verstellen. Sie steigen ihnen aufs Dach und decken auf, was den Weg zu Jesus, den Weg zur Befreiung seines Lebens versperrt. Wie gut dass das Haus, in dem Jesus die Menschen empfing, ein Flachdach hatte …
Die Freunde bekommen von Jesus recht: Als er ihren Glauben sieht, sagt er zu dem Gelähmten: Dir sind deine Sünden vergeben. Sünde meint gestörte Beziehung. Zu den Mitmenschen, zu sich selbst, zum Leben, zu Gott. Das, was Menschen auf die Bahre drückt, was sie lähmt und ihr Leben aussichtslos macht, kann behoben werden vom beherzt zupackenden Glauben der Freunde und dem, was im Text Vergebung genannt wird. Vergebung heißt, genau hin sehen, aufdecken, was lähmt und zu einem Neuanfang ermutigen. Ermächtigen. Befreien. Der Gelähmte hat den Glauben seiner Freunde. Sie decken auf was ihn von seiner Heilung trennt und lassen ihren Freund zu Jesus herunter. Der richtet ihn auf mit ein paar Worten: „Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?“ Es wäre leicht, einander zu vergeben, einander anzunehmen, wenn da nicht die Menge wäre, die im Weg steht, und die Schriftgelehrten, die hier Gotteslästerung sehen. Für sie ist Leben nur innerhalb der Mauern ihrer Verordnungen und Zuständigkeitsbereiche erlaubt. Sie kennen keine Gnade.
Jesus ignoriert sie und spricht ein Machtwort: Steh auf! Nimm deine Bahre und geh heim. Er sagt nicht, folge mir nach. Er weiß, dieser Mensch hat Freunde.

Ich habe diese Geschichte wegen dieser Freunde des Gelähmten gewählt. Und natürlich wegen des Dachs. Weil es flach ist, ermöglicht es andere Sichtweisen und es ermöglicht in dieser Geschichte einen ungewöhnlichen Zugang zur Heilung des gelähmten Freundes. Das Flachdach der Brenzkirche stand für einen demokratischen Aufbruch. Sie verschaffte denen, die mühselig und beladen zu ihr kamen, Licht, Luft und Erquickung. Die Nähe zur Weißenhofsiedlung war offensichtlich. Über die tobte bereits ein heftiger ideologischer Streit. Araberdorf wurde sie genannt. Ihre Kirche wurde als Schande betrachtet. Die Weißenhofsiedlung sollte einem Wehrmachtspalast weichen. Als das bekannt wurde, wurden Umbaupläne für die Brenzkirche geschmiedet. Der Umbau 1939 anlässlich der Eröffnung der Reichs-Gartenschau be-dachte die Kirche mit einer menschenverachtenden Ideologie, die
unsägliches Leid zur Folge hatte. Und dieses Dach blieb, ja viel schlimmer – es wurde ihr nach seiner Zerstörung wieder aufgesetzt. Was haben sich die Verantwortlichen damals nur ge-dacht?
Auch die folgenden Nachrüstungen sind mir ebenso unerklärlich wie die Entscheidung des Denkmalamtes, gerade diese offensichtlich missbrauchte entstellte Kirche zu schützen und keine Heilung zuzulassen.

Der Denkmalschutz hat zu einer Lähmung geführt, die bis heute 40 Jahre dauerte. (eine biblische Zahl: 40 Jahre irrte das Volk Israel durch die Wüste, 40 Tage fastete Jesus, bevor ihm sein Weg klar war …)
Der Gelähmte in unserer Geschichte hatte Freunde, die
unkonventionelle Wege gingen. Die Brenzkirche inzwischen auch. Da ist eine Gemeinde, die gelernt und sich verändert hat, da ist ein Förderverein, der ihre Geschichte aufdeckt und ihr Leiden sichtbar macht, da sind die Freunde der Weißenhofsiedlung, die mithelfen, ihr Beine zu machen und da sind die Leute von der iba 27, die neue Türen öffnen.
Sie alle sind der Brenzkirche in den letzen Jahren aufs Dach gestiegen, haben sich in die Tiefen ihrer Geschichte hinabgelassen und neue Perspektiven ans Licht gebracht.
Die Gemeinde hat Spielräume entdeckt und dabei sind ihr viele Lichter aufgegangen: Spirituell, ästhetisch, politisch und sozial. Sie feiert Gottesdienste mit vielfältigen Kommunikations- und Beteiligungsformaten.
Sie öffnet sich für Impulse aus der zeitgenössische Kunst. In Anknüpfung an die Ursprungsidee ist sie ein Atelier des Heiligen Geistes, eine Werkstatt für kreative und spirituelle Selbst- und Fremderfahrungen. Sie öffnet ihre Türen als Zufluchtsstätte für geflohene und von Abschiebung bedrohte Menschen. Sie ist Begegnungszentrum von Menschen aus der Nachbarschaft, Einheimischen und Zugezogenen, ein Ort der Integration von Jung und Alt, Arm und Reich, Fremd und Vertraut.
Die ursprüngliche Brenzkirche in der Nachbarschaft von
Weißenhofsiedlung und Kunstgewerbeschule war architektonisch die erste Atelier- und Werkstattkirche in Stuttgart, ein einzigartiger Ort beinahe mystischer Reduktion. Das konnte seinerzeit niemand wirklich würdigen. Die Freundinnen und Freunde der Brenzkirche haben es in den letzten Jahren aufgedeckt. Ihr Licht soll nicht länger unter einem Scheffel mit nationalsozialistischer Prägung stehen, sondern wieder weithin leuchten, damit die Menschen die Möglichkeiten
sehen, die sich mit diesem Ort verbinden. Die architektonische Befreiung der Brenzkirche ist eine Botschaft, die weit über die Kirchengemeinde hinausreicht. Deshalb wurden für einen Wettbewerb 16 hochkarätige, internationale innovative Architekturbüros gewonnen, die der Brenzkirche wieder auf die Beine und zu neuem Glanz verhelfen werden. Glaube baut sich nicht nur von innen nach außen, sondern auch von außen nach innen. Es ist nicht gleichgültig in welchen Häusern wir uns versammeln und beten, welche Signale sie aussenden, was sie ausstrahlen. Wirken sie einladend oder abweisend, spielerisch oder verklemmt, signalisieren sie Duckmäusertum oder bringen sie Menschen dem Himmel näher. Lähmen sie oder bringen sie in Bewegung.
Die Freunde des Gelähmten deckten auf, was den Weg zum Leben und den Blick zum Himmel versperrt. Die Hüter des Gesetzes, die Schriftgelehrten, waren entsetzt. Aber am Ende priesen auch sie Gott und sagen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.
Vielleicht geht es uns auch so wenn wir uns hoffentlich 2027 hier wieder treffen und eine neue Brenzkirche einweihen.
Amen.

Pfarrer Karl Eugen Fischer, Predigt am 02.04.2023