Brenzkirche als Architekturdenkmal - Überlegungen aus städtebaulicher Sicht

Brenzkirche (Alfred Daiber 1930-33)

Architekturdenkmal und Städtebau

Beispiele der Architektur gehören zweifellos zur Kulturgeschichte und sind damit zwar auch Gegenstand historischer Forschung; sie sind aber zunächst und vor allem Baukunst, d.h. Gegenstand kunsthistorischer Forschung. Die Kunst des Bauens ist die besondere Fähigkeit, gut nutzbare Gebäude stabil konstruiert und mit ästhetischem Anspruch herzustellen, zu ergänzen oder umzubauen. Das gelingt nach dem Urteil der Gesellschaft oft, aber nicht immer: Die Verteilung von Erfolg und Misserfolg dieses Bemühens wird wie vieles andere in der Gaußschen Normalverteilungskurve abgebildet.

Dass die sich im Lauf der Zeit wandelnde Architektur mit ihren sich entsprechend ändernden Bedeutungsinhalten auch gesellschaftliche Entwicklungsprozesse abbildet, ist u.a. durch Martin Warnke1 seit 1970 ins Bewusstsein gerückt worden. (Das konnte Rudolf Lempp,2 dem vor allem „nach Art der Väter“ bauende Schüler der Stuttgarter Schule, 1939 gar nicht bekannt gewesen sein.) Um dieses Phänomen des Bedeutungsträgers in der gesamten Architekturentwicklung deutlich zu machen, müssen die einzelnen Teile, also jedes Gebäude für sich seinen Aussagewert behalten. Deutliche, spätere Veränderungen am Einzelgebäude erschweren fast immer das Erkennen der jeweiligen Entwurfsabsicht bzw. der spezifischen künstlerischen Aussage.

Das trifft im Besonderen für die Brenzkirche zu: Ihre künstlerische Aussage (Transparenz, experimentelle Offenheit, Rationalität, Funktionalität, Innovation der Ausdrucksmittel – wie z. B. Verwendung konstruktiver Elemente zur Formbildung) wird 1939 verständnislos aber absichtsvoll unkenntlich gemacht, rücksichtslos zugekleistert. (Rücksichtnahme war auch dem NS-Regime weitgehend fremd.) Diese historisch nicht unwichtige Erkenntnis ist aber in situ, am Gebäude selbst, so gut wie nicht nachvollziehbar, weil die Veränderungen im Äußeren nahezu komplett waren. Man braucht für das Erkennen der historischen Wahrheit historische Pläne und Fotos sowie Schriftstücke. Auch umgekehrt könnte man bei einer Freilegung des Originals die politisch gewollte Veränderung nicht mehr in situ erkennen, man müsste nun diese im Archiv suchen. Die Frage, ob man lieber die Verhunzung zeigt oder das ästhetische Original, ist eine künstlerische, die das Stadtbild betrifft, keine wissenschaftliche. So oder so spielt sich die historische Wahrheitsfindung ohnehin im Archiv ab. Aus Sicht der Stadtbildpflege empfiehlt sich nicht die dauerhafte Bußübung, den misslungenen, rücksichtslosen Korrekturversuch Lempps gleichsam als Monstranz sensiblen Unvermögens ausgerechnet vor der Kunstakademie zu erhalten. Als „Mahnmal“ kann diese Fehlleistung noch weniger verstanden werden als die missglückten Reparaturen kriegsbeschädigter Bauten (Johanneskirche, St. Marien, Villa Berg, Berger Kirche).

In städtebaulicher Hinsicht war die Kirche im aufgesiedelten Gebiet um den ehemaligen Hof des Bauern Weiß eine seelsorgerische Notwendigkeit u.a. für die neuen Bewohner der 1927 fertiggestellten Weißenhofsiedlung. Dementsprechend sollte die Kirche ja zunächst auch den Namen „Weißenhofkirche“ erhalten. Dass sie zu dieser berühmten, experimentellen Werkbundsiedlung gehörte, sollte voller Absicht in ihrer architektonischen Gestaltung erkennbar werden; diese Absicht wurde vom Architekten der funktionalistischen ehem. Ortskrankenkasse (1928-33 am Falkert-Buckel), Alfred Daiber,3 erfolgreich in die Realität umgesetzt. Durch den Umbau (und den anderen Namen) der Kirche wurde diese ursprüngliche Beziehung unkenntlich gemacht. Ihre nachträglichen Satteldächer korrespondieren nun eher mit den hinter Bäumen versteckten konservativen Villendächern4 im südwestlich gelegenen Gebiet an der Landenbergerstraße. Das konterkariert die avantgardistische Tendenz im neuen Stadtgebiet, die die revolutionäre Aufbruchstimmung nach dem verlorenen 1. WK architektonisch erlebbar gemacht hatte.

Es gibt keine vergleichbaren Beispiele für solch bußfertige Selbstgeißelung.

 

Dietrich W. Schmidt

Dipl.-Ing., DWB, do.co.mo.mo.
Bauhistoriker i.R.
ifag, Uni Stuttgart