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Ein Unrecht wiedergutmachen – mit einer Kirche von gestern für eine Kirche von morgen
Von Andreas Keller . 06 Jan. 2020
Für die rasch wachsende evangelische Gemeinde im Stuttgarter Norden wurde 1933 eine dritte Kirche gebaut: zur Erlöser- und Martinskirche trat die Brenzkirche, in welcher ihr Erbauer Alfred Daiber ein geradezu revolutionär anmutendes Kirchenmodell der Zukunft realisierte.
Mit einem Kirchensaal im Obergeschoß, einem Flachdach und offenem Glockenstuhl, einer „runden Ecke“, einem faszinierenden Fensterkonzept wurde eine Kirche verwirklicht, die – der „Neuen Sachlichkeit“ verpflichtet – in einen direkten Dialog zur Weißenhofsiedlung trat.
Bei der Einweihung waren die Nationalsozialisten bereits an der Macht und diffamierten die neue Kirche auf das Heftigste. Als OB Strölin die Reichsgartenschau 1939 nach Stuttgart holen konnte, setzte sich rasch in Partei, Verwaltung und auch weiten Architekten- und Kirchenkreisen die Ansicht durch, dass man den Besuchern von Nah und Fern den Anblick eines solchen baulichen Schadflecks nicht zumuten dürfe. So einigte man sich im Sommer 1938 über eine „Germanisierung“ mit Pultdach, Glockenturm, normale Fenster, Wegfall der runden Ecke etc. Mit diesen Maßnahmen, in weniger als einem halben Jahr realisiert, verschwand die Brenzkirche aus dem Blick und der Aufmerksamkeit.
Auch sie wurde im 2. Weltkrieg beschädigt und 1946/47 wieder aufgebaut, vom gleichen Architekten, der sie willfährig 1939 „germanisiert“ hatte – Rudolf Lempp – und der, man wundert sich nicht darüber, ist aber doch fassungslos über die Haltung der Gremien, die Kirche im Stil 1939 wieder aufbaut.
Schandtaten müssen belegt werden und sichtbar bleiben. Dies mag vielleicht ein Beweggrund gewesen sein, dass die Denkmalbehörde die Kirche 1983 unter Schutz stellte und damit einen Zustand festschrieb (bis heute), der die originale Intention des Architekten und der damaligen Bauherrschaft ausblendet und dazu in Kauf nimmt, dass viele kleinere „Reparaturen“ an und in der Kirche zwischen Kriegsende und den frühen 80er Jahren mit geschützt werden.
Wenn aber ein Denk-Mal nicht zum Betrachter spricht, wenn er/sie es gar nicht wahrnimmt, dann ging da etwas schief.
Sichtbar machen wollen wir wieder die revolutionäre Gestalt der Kirche, wie sie ihr Erbauer erdacht hatte. Darauf aufbauend ein Konzept für eine Kirche von heute und morgen entwickeln, die Menschen des 21. Jahrhunderts ansprechend.
Jetzt ist die Zeit gekommen, dies Vorhaben energisch in Angriff zu nehmen. Die Kirche ist so sehr „in die Jahre gekommen“, dass sie jedenfalls grundlegend saniert werden muss. Die Nachbarschaft hat sich gegenüber 1933 nachhaltig gewandelt (Verlagerung der Messe auf die Fildern, Neubaugebiet „Rote Wand“).
Das Unrechtsbewusstsein ist gewachsen. Nach so vielen Jahren des Schweigens und Vertuschens sind in den letzten beiden Jahrzehnten wichtige Erinnerungsorte entstanden. So auf dem Killesberg, das Hotel Silber oder das „Zeichen der Erinnerung“ am Inneren Nordbahnhof. Bei jeder Führung berichten wir von den ehemaligen Hallen auf dem Killesberg, die als Sammelorte missbraucht wurden bevor insgesamt mehr als 2500 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger an der Brenzkirche vorbei durch den Eckartshaldenweg zum Inneren Nordbahnhof gehen mussten und von dort in die Vernichtungslager deportiert wurden. Kaum ein Opfer überlebte. Auch dies ist Teil der Geschichte der Brenzkirche.
Dokumentieren wollen wir dies urheberrechtliche Verbrechen genau, dazu aber einen Raum (wieder) erschaffen, der sich den brennenden Fragen einer Kirche von heute und für morgen stellt. Alfred Daiber gab vor knapp 90 Jahren eine beeindruckende Antwort.
Andreas Keller
Vorstandsvorsitzender